Ralf Gruber - systemisch agil
 

Welche organisatorischen Rahmenbedingungen sind für agile Teams nützlich?


Viele Unternehmen befinden sich gerade in der agilen Transformation und sobald die ersten Schritte erfolgreich waren (meist die Einführung der typischen Scrum Prozesse) steht oft die nächste Herausforderung an. Eine Transformation jenseits von Scrum auf Teamebene mit Implikationen auf traditionell etablierte Prozesse und Kulturen wie z.B. dem Verständnis von Führung (von hierarchischer Führung hin zu Servant Leadership und selbstorganisierten Teams). Als Beispiel wird im Folgenden das Thema Selbstorganisation herausgegriffen

Bereits in den Prinzipien des Agilen Manifest heißt es
„Die besten Architekturen, Anforderungen und Entwürfe entstehen durch selbstorganisierte Teams.“
Ich habe sowohl in "klassischen" als auch in start-ups und agilen settings gearbeitet und kenne Vor- und Nachteile aus eigener Erfahrung. Auch wenn selbstorganisierte Teams viele Vorteile bieten, kann man nicht pauschal sagen, je mehr Selbstorganisation desto besser.  Auch der Glaube, Selbstorganisation entsteht allein durch "laissez-faire" ist ein weit verbreiteter Irrglaube.
Zielführender ist die Frage, wieviel Selbstorganisation in der momentanen Situation für die Organisation und das Team am besten ist - und wie man auf diesen Level kommt.

Selbstorganisierte Teams – Jeder macht, was er will (oder soll)?

Selbstorganisierte Teams - das klingt erst einmal gut, modern und agil. Aber was verspricht man sich davon?
Oft genannte Gründe sind: Schnellere Entscheidungen und Umsetzung, höhere Motivation der Teammitglieder, Verschlankung der Strukturen, etc. Diese Vorteile können in der Praxis auch definitiv erzielt werden, vorausgesetzt, die Selbst-Organisation ist gut organisiert - so paradox sich das auch erst einmal anhört, aber Selbstorganisation braucht Führung.

Es genügt nämlich keineswegs, einfach die Managementebene zu eliminieren und anzunehmen selbstorganisierte Teams würden dadurch von selbst entstehen. Das ist eine etwas blauäugige Annahme, denn zum einen braucht es nach wie vor Entscheidungen und Führung. Und zum anderen muss das Team auch in die Lage versetzt werden selbstorganisiert zu handeln. Sowohl durch die entsprechenden Kompetenzen der Mitglieder als auch durch passende Rahmenbedingungen. Wie kann man jetzt also diese Selbstorganisation organisieren?

Bestimmte klassische Führungsaufgaben werden bei anderen Rollen angesiedelt. Fachliche Entscheidungen (z.B. welches Feature höhere Priorität hat) sollte der Product Owner treffen. Prozessfragen, Moderation und Hindernisse für produktives Arbeiten sollten durch den Scrum Master abgedeckt werden. Was bleibt dann noch für die klassische Führungskraft übrig? Die Führungskraft hat eine wesentliche Rolle in der Gestaltung des Rahmens für das Team also typischerweise Aufgaben, die über das Team hinausgehen, z.B.

  • In einer idealen Welt können verschiedene Teams einer Organisation völlig unabhängig voneinander agieren, in der Praxis gibt es aber meistens Abhängigkeiten zwischen Teams. Oft sogar so stark, dass z.B. eine gemeinsame Release Planung erforderlich ist. Diese Aufgabe geht über das Team hinaus, sie kann nur in Abstimmung mit anderen Teams erfüllt werden. Insofern befindet sie sich auf einer "höheren Flughöhe" mit einer gröberen Granularität und ist damit logisch eine Hierarchieebene höher. Dies kann bedeuten, dass die Rolleninhaber auch in einem organisatorischen Sinne eine Hierarchieebene höher sind. Dies ist aber keineswegs zwangsläufig z.B. übernimmt im  Scaled Agile Framework das Scrum of Scrums die Aufgabe der Abstimmung zwischen Teams, was vereinfacht gesagt der selbe Scrum Prozess auf einer höheren Granularität ist. Es braucht aber auf jeden Fall jemanden, der diese Rolle übernimmt und entsprechende Kompetenzen hat.
  • Strategische Entscheidungen wie z.B. Portfoliofragen (ein Produkt ganz einzustellen oder ein neues Produktteam aufzusetzen), Make or Buy Entscheidungen und Verhandlungen mit externen Anbietern oder Erhöhung/ Verringerung der Mitarbeiterzahl des Teams. Wenn jedoch die Entscheidung für eine Teamvergrößerung gefallen ist, sollte das Team bei der konkreten Besetzung zumindest mitentscheiden dürfen. Die Entscheidung z.B. über Kündigung von Teammitglieder sollte hingegen nicht durch das Team getroffen werden auch wenn natürlich hier das Feedback des Teams wichtig ist.
  • Etablieren und Schützen von agilen Arbeitsmethoden.  Ein Scrum Master kann viele Hindernisse innerhalb des Teams aus dem Weg räumen, wie z.B. Konflikte zwischen den  Teammitgliedern oder unzureichende Akzeptanzkriterien für User Storries etc. Schwierig wird es doch, wenn bestimmte Grundlagen von außerhalb des Teams - in der Regel durch das Management - in Frage gestellt werden. Typische Beispiele in größeren Organisationen wären z.B. eine Jahresplanung in der zu Beginn des Jahres die Roadmap festgelegt wird, ohne die Bereitschaft, diese ggfs. flexibel anzupassen. Oder wenn das Team sehr detailliert Kundenfeedback nutzt um das Produkt zu verbessern, diese Prioritäten aber von höherrangingen Managern ohne fachliche Begründung überstimmt werden. In diesen Fällen braucht es eine Führungskraft, die auch hierarchisch in der Lage ist, den "agilen Arbeitsraum" des Teams zu verteidigen und zu stärken.
  • Mitarbeiterweiterentwicklung und Coaching

Je nach Organisationskultur sind diese Aufgaben unterschiedlich schwierig; in einer kleinere innovativen Firma ist das sicherlich einfacher als in etablierten Organisationen, die über Jahrzehnte anderes gearbeitet haben. Hinzu kommt, dass auch die Mitarbeiter selbst neue Kompetenzen brauchen. Ein Mitarbeiter, der es jahrelang gewohnt war, dass sein Chef genau definiert was zu tun ist und auch die komplette Verantwortung übernimmt, muss diese neue Erweiterung seiner Verantwortung evtl. erst schrittweise erlernen. Manchmal sind dabei die Mitarbeiter nicht in der Lage oder gewillt, diese neuen Rollen einzunehmen. In diesem Fall ist ein Wechsel des Mitarbeiters in einen anderen Bereich mit traditionelleren Aufgaben evtl. sinnvoll. Weitaus häufiger ist jedoch der Fall, dass die Kompetenzen durchaus vorhanden sind und teilweise außerhalb des Arbeitsumfeldes schon erfolgreich einegesetzt wurden. Mitarbeiter haben beispielsweise den Bau Ihres Eigenheims hervorragend gemanagt oder die organisatorische Meisterleistung Kinderbetreuung und Job auszubalancieren sehr gut bewältigt. Diese Mitarbeiter blühen dann auf, wenn sie die Möglichkeit haben, diese Kompetenz auch im normalen Beruf zu nutzen.


Fazit

Selbstorganisierte Teams entstehen nicht von alleine, sondern benötigen vor allem am Anfang Unterstützung und einen stabilene Rahmen. Sobald sich aber die Prozesse eingespielt haben, amortisiert sich diese Investition sehr schnell durch höhere Produktivität, Verschlankung der Struktur, schnellere Umsetzung und eine höhere Motivation. Mit zunehmendem Reifegrad des Teams können mehr und mehr Führungs- und Entscheidungsfragen durch das Team selbst gelöst werden - nichtsdestotrotz benötigt es aber weiterhin einer Rolle, die sich um Belange jenseits des Einflussbereiches des Teams kümmert. Oft ist diese Rolle auch hierarchisch höher angesiedelt, dies ist jedoch nicht zwangsläufig erforderlich, wichtig ist lediglich die Handlungskompetenz zur Erfüllung dieser Aufgaben.