Ralf Gruber - systemisch agil
 

Warum der Unterschied zwischen kompliziert und komplex entscheidend ist

Wie kann man zwischen komplizierten und komplexen Systemen unterscheiden und welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Unterscheidung?

Komplizierte Projekte erfordern detailliertes Fachwissen und Kooperation von Experten. Es gibt klare Ursache-Wirkungs Beziehungen und deshalb ist es möglich, durch genau Analyse und Planung eine ideale Vorgehensweise vorab zu bestimmen. Beispiele hierfür wären der Bau eine Brücke, die Konfiguration eines SAP Finanzsystems, die Montage eines Autos etc. Entscheidend für gutes Gelingen ist hier Erfahrungswissen von Experten.

Komplexe Projekte zeichnen sich dadurch aus, dass die Ursache-Wirkung Beziehung unklar ist und es keine oder wenige Erfahrungswerte gibt. Aus diesem Grund ist eine iteratives Vorgehen mit schnellen Feedbackschleifen erforderlich, um schrittweise durch diese unklare Situation zu navigieren. Beispiele wären die Einführung eines neuen Produktes in einem neuen Markt. Entscheidend sind hier schnelles Feedback, Neuorientierung und Anpassung des Produktes. Statt also Monate mit reiner Vorab Planung und Analyse zu verbringen um dann im Elfenbeinturm das perfekte Produkt auf den Markt zu bringen, empfiehlt es sich hier, schnell Prototypen oder Basisversionen zu entwickeln und diese Kunden zur Verfügung zu stellen. (done is better than perfect)
Dieser Ansatz ist beispielsweise in Lean Startup von Eric Ries beschrieben.  

Welche der Vorgehensweisen ist jetzt die bessere? Diese Frage lässt sich nur unter Berücksichtigung des Kontextes beantworten.  Beim Bau einer Brücke gibt es Gesetze der Statik, die bekannt sind und sich auch nicht im Laufe der Zeit ändern. Hier würde es keinen Sinn machen 3 Versionen einer Brücke zu bauen um zu evaluieren, welche den stabil ist. Auf der anderen Seite macht es keinen Sinn ohne Kundenfeedback ein neues Produkt bis ins letzte Detail zu entwickeln nur um dann festzustellen, dass der Kunde einen ganz andere Mehrwert erwartet. 

Das Cynefin Modell eignet sich sehr gut als Landkarte, um diese unterschiedlichen Welten und passende Vorgehensweise zu strukturieren. Dabei geht es nicht mehr darum, dass es eine einzige beste Art des Vorgehens  gibt, vielmehr ist die entscheidene Frage, ob die gewählte Vorgehensweise in dem gegebenen Umfeld zielführend ist, oder nicht. Analog dazu ist auch eine Art von Führung gefragt

Das Cynefin Frameworkl besteht aus 4 Quadranten, für jeden Quadranten sind verschiedene Vorgehensweisen am passendsten.




















  • Einfach, offensichtlich, stabiles Umfeld z.B. sich wiederholende Tätigkeit, die in ähnlicher Weise von vielen Mitarbeitern ausgeführt werden. Es gibt best practices über welche Vorgehensweisen richtig und falsch sind, die Mitarbeiter sollen dies auch nach den Vorgaben durchführen. Hier ist es hilfreich, wenn die Führungskraft eine hohe  fachliche Kompetenz  hat und am meisten Wissen und Erfahrung hat. Sie kann dann anleiten, wie Dinge am besten zu tun sind und dafür sorgen, dass alles richtig gemacht wird. Dabei nimmt sie die aktuelle Situation wahr, bewertet sie aufgrund der eigenen Erfahrung und handelt basierend auf diesem Wissen
  • Kompliziertes Umfeld, z.B. eine SAP Einführung, die Spezialisten mit einem hohen Fachwissen erfordern. Hier kann es oft unklar sein, was best practice ist, weil Experten verschiedene Ansätze verfolgen, die jeweils Vor- und Nachteile habe.  Daher gibt es oft unterschiedliche good practices. Die Führungskraft kann fachlich hier nicht mehr alle Details verstehen; hilfreich ist es dennoch, wenn sie die fachlichen Zusammenhänge kennt und Expertenmeinungen kritisch hinterfragen kann. Die Führungskraft muss also die aktuelle Situation wahrnehmen, komplizierte Fragestellungen und Entscheidungen analysieren und basierend auf der eigenen Analyse und Expertenwissen Maßnahmen ergreifen.
  • Komplexes Umfeld, z.B. Entwicklung eines innovativen neuen Produktes. Hier gibt es keine klaren Ursache-Wirkung Zusammenhänge mehr. Der Erfolg eines neuen Produktes ist nicht vorausberechenbar auch wenn es Heuristiken und Erfahrungen aus der Vergangenheit gibt. Erst beim Gehen des Weges kann neues Wissen über die Spielregeln des neuen Marktes gewonnen werden; es ist also hier sehr wichtig, früh Erfahrungen zu sammeln, z.B. über Prototypen, Experimente, etc. Es gibt sogenannte emergent practices, die im Verlauf durch schnelle Feedback loops gefunden werden können. Dieses Vorgehen ist typisch für agile Ansätze, lean start-up etc.  Die Vorgehensweise ist also Experimentieren/Erfahrungen sammeln, diese dann auswerten und entsprechend zu reagieren.
    Die Führungskraft kennt die Wirkzusammenhänge des neuen Marktes nicht und kann auch nicht alles Wissen selbst erwerben. Entscheidend ist deshalb, dass jedes Teammitglied Eigenverantwortung übernimmt und die verschiedenen Kompetenzen des Teams optimal genutzt werden. Die Rolle der Führungskraft ist eher die eines Dienstleisters für das Team, die dafür sorgt, dass gut zusammengearbeitet werden kann (servant leadership). Sie kann auch die strategische Richtung vorgeben und Leitplanken definieren
  • Disruptives Umfeld, z.B. aktuelle Situation mit Covid-19. Hier gibt es kein Erfahrungswissen aus der Vergangenheit, weil es keine vergleichbaren Erfahrungen und Situationen gab und sich Spielregeln und Muster extrem stark verändern.  Selbst die Durchführung von Experimenten um Erfahrung zu sammeln ist aus Zeitgründen oder auch aufgrund der extremen Unsicherheit nicht möglich. Es entstehen komplett novel practices, die Gefahr des Scheiterns ist groß. Als Führungskraft geht es in dieser extremen Situation auch darum, gut mit den Belastungen umzugehen und Zuversicht auszustrahlen ohne diese durch Erfahrungen der Vergangenheit begründen zu können. Auch die Bereitschaft radikal mit alten Mustern zu brechen und sich auf eine vollkommen andere Situation einzulassen erfordert viel Resilienz von Führungskraft und Mitarbeitern.

Einer der häufigsten Fehler ist, dass Vorgehensweisen, die in einer komplizierten Welt Sinn machen in einer komplexen Welt nicht mehr funktionieren. Wenn ein Betriebssystem veraltet ist wird ein neues aufgespielt (kompliziert). Wenn aber eine bisherige Arbeitsweise ersetzt werden soll reicht es nicht aus, Vorgaben für die neue Arbeitsweise zu kommunizieren. Es reicht auch nicht aus, die neuen Arbeitsweise zu Schulen - auch wenn das natürlich sinnvoll und notwendig ist. In der Praxis tauchen in solchen Fällen of sogenannter Widerstand auf, sprich die Veränderungen verpuffen, es macht sich Zynismus breit etc. Das liegt schlicht und ergreifend oft daran, dass die Menschen nicht mitgenommen wurden. Beispielsweise in dem Sie bei der Neugestaltung als Experten miteinbezogen wurden. Oder anerkannt wurde, dass die alte Arbeitsweise nicht nur schlecht war, sondern auch viel gutes erreicht hat etc. All das sind Merkmale einer komplexen Welt ohne klare Ursache-Wirkungs Zusammenhänge.

Heinz von Foerster hat eine ähnliche Unterscheidung getroffen zwischen trivialen und nicht trivialen Systemen.  Tribial ist hier nicht im Sinne von einfach verwendet sondern drückt aus, dass im Sinne von im Prinzip berechenbar, d.h. wenn man beispielsweise gegen einen Stein tritt, dann wird dieser eine bestimmte Flugbahn haben. Auch wenn die Berechnung sehr kompliziert sein kann, ist es doch in dem Sinne trivial, als dass die Ergebnisse erwartbar und berechenbar sind. Nicht triviale Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein „Innenleben“ haben und insofern die Reaktion nicht berechenbar ist. Ein freundliches „guten Morgen“ an den Kollegen kann alle möglichen Reaktionen auslösen: von einer freundlichen Erwiderung über „lass mich in Frieden mit deiner Übermotivation“ bis zu „der will bestimmt irgendetwas von mir, sonst wäre er nicht so freundlich“. Auch die beste Vorabanalyse kann das nicht vorwegnehmen - hier sind also schnelle Feedbackschleifen und eine Anpassung der nächsten Schritte sinnvoll, z.B. eine einfache Nachfrage beim Kollegen.    

Die Erkenntnis, das viele Vorgehensweisen, die in einer komplizierten Welt, die klare Ursache-Wirkungs Zusammenhänge hat z.B. bei einer komplexen agilen Transformation nicht angemessen sind, ist eine zentrale Voraussetzung um passender Methoden auszuwählen. Diese Sichtweise rüttelt am Weltbild und Selbstverständnis vieler Manager, insofern ist eine Umsetzung alles andere als einfach - und dennoch notwendig um die Transformation gestalten zu können.